Beschreibung
P 789 – Entwicklung von Grundlagen zur Auswahl und prozesssicheren Auslegung von Biegeverfahren für die Herstellung von Profilen aus innovativen Stahlwerkstoffen
Neue, innovative Werkstoffe sind ein Schlüsselfaktor für die Entwicklung neuer Produkte, die zur Verbesserung der Lebensqualität des Menschen und zur Schonung von Energie und Ressourcen beitragen können. Dies gilt in besonderem Maße für die neuen Generationen hoch- und ultrahochfester Stahlwerkstoffe, deren Eigenschaften exakt auf die jeweils erforderlichen Anforderungen eingestellt werden können und damit eine große Bandbreite von Nutzungsmöglichkeiten eröffnen. Jedoch wird aktuell das Einsatzpotenzial dieser Werkstoffe industriell bei Weitem nicht vollständig ausgenutzt. Dies ist teilweise durch die geringere Duktilität gegenüber weicheren Stahlsorten begründet.
Durch die eingeschränktere Umformbarkeit dieser Werkstoffe kommt es beim Biegeumformen oftmals zu einem vorzeitigen Werkstoffversagen durch Rissbildung. Vor allem bei dem häufig eingesetzten Gesenkbiegen können dadurch nicht so kleine Radien hergestellt werden, wie es für die Steifigkeit der Bauteile notwendig ist. Eine mögliche Alternative zum Gesenkbiegeverfahren ist das Walzprofilieren, das bei höheren Losgrößen speziell für die Profilherstellung eingesetzt wird. Gesenkbiegen und Walzprofilieren haben eine hohe industrielle Relevanz. Allerdings wurden sie insbesondere im Zusammenhang mit hochfesten und ultrahochfesten Stahlwerkstoffen bislang nicht oder nur ansatzweise wissenschaftlich erforscht. So sind die Kenntnisse über die Verfahrensgrenzen beim Biegeumformen von Blechwerkstoffen noch sehr unzureichend, vor allem vor dem Hintergrund, dass die Erfahrungen mit herkömmlichen Blechwerkstoffen nicht auf die neuen hochfesten Werkstoffe übertragbar sind.
Daher wurden im Rahmen dieses Projekts Grundlagen für die prozesssichere Auslegung der Fertigungsprozesse Freibiegen und Walzprofilieren für die Herstellung von Profilen aus hochfesten Stahlwerkstoffen erarbeitet. Dazu wurden beide Verfahren systematisch, experimentell und numerisch untersucht. Ziel der Untersuchungen war die Bestimmung der signifikanten Unterschiede zwischen den beidenVerfahren und insbesondere der verfahrensspezifischen Prozessgrenzen.
Zu Beginn der Untersuchungen wurde zunächst eine detaillierte Werkstoffcharakterisierung durchgeführt, um Fließortkurven und Formänderungsdiagramme für die im Rahmen dieses Projektes untersuchten hochfesten Stahlwerkstoffe zu bestimmen. Zur Abbildung unterschiedlicher Lastrichtungen kamen unterschiedliche Prüfverfahren zum Einsatz. Die bei der Werkstoffcharakterisierung erhaltenen Daten bildeten die Grundlage für die Beurteilung des Werkstoffverhaltens und für die Auswahl geeigneter Materialmodelle für die numerischen Berechnungen.
Für beide Verfahren wurde ein detailliertes 3D-FE-Modell erstellt, das den Prozess möglichst realitätsnah abbildet bei dennoch moderaten Laufzeiten. Auf-grund der Komplexität des Verfahrens stellte dies beim Walzprofilieren besondere Anforderungen an die Modellbildung. Ferner wurden verschiedene Materialmodelle zur Beschreibung des Werkstoffverhaltens der hochfesten Stähle implementiert, experimentell validiert und auf ihre Eignung für die verschiedenen Biegeverfahren bewertet. Vorbereitend für die experimentellen Untersuchungen wurden für beide Verfahren entsprechende Versuchsstände aufgebaut. Neben der Konzipierung und Realisierung spezieller Versuchswerkzeuge war ein Schwerpunkt der Arbeiten die Implementierung entsprechender Messtechnik.
Für die genaue Festlegung der Formänderungsgrenzen und der verfahrensspezifischen Unterschiede der Verfahren war es wichtig, möglichst viele Größen online zu messen. Ein spezielles Problem stellte die Messung der Dehnungen in der Umformzone (zu Beginn des Versagens) dar, weil sie sehr klein sind. Deshalb wurden verschiedene Messansätze und -systeme getestet und bewertet, um eine geeignete Messmethode für diese Anwendung zu finden, mit der aussagekräftige Messdaten mit hinreichender Genauigkeit aufgenommen werden konnten. Beim Freibiegen war es möglich, die Dehnungen online zu messen. Beim Walzprofilieren war aus Platzgründen nur eine Offlinemessung möglich.
Mithilfe der entwickelten experimentellen und numerischen Methoden wurden die Biegeprozesse Walz-profilieren und Freibiegen systematisch und detailliert untersucht. Im Rahmen einer Parametervariation wurden der Einfluss einzelner Parameter auf das Umformergebnis und die Formänderungsgrenzen sowie das Eintreten von Versagen grundlegend analysiert. Dadurch konnten charakteristische Versagensursachen bei beiden Verfahren für verschiedene hochfeste Stahlgüten unterschiedlicher Hersteller ermittelt werden.
Durch die Gegenüberstellung der verfahrensspezifischen Umformeffekte konnten erste Anhaltspunkte für eine positive Beeinflussung der Verfahrensgrenzen abgeleitet werden. Im Zuge erweiterter Untersuchungen konnte beispielhaft gezeigt werden, wie die Formänderungsgrenzen beim Freibiegen durch zwei verschiedene Strategien signifikant erweitert werden konnten. Zum einen wurde die Prozessführungsstrategie in Analogie zum Walzprofilierprozess geändert und das Werkstück durch ein zyklisches Be- und Entlasten umgeformt. Zum anderen wurde die Reibung an den Werkzeugelementen reduziert, wodurch die Rissbildung ebenfalls verzögert werden konnte.
Ferner wurden die Umformkräfte beim Walzprofilieren gemessen, um die Beanspruchung beim Einsatz hochfester Stähle genauer zu untersuchen sowie den Einfluss der Blechbreite und der einzelnen Profilierstufe zu analysieren.
Zur Validierung der gewonnenen Erkenntnisse im industrienahen Umfeld wurde ein Musterbauteil auf Produktionsmaschinen hergestellt. Dabei konnten die Versagensursachen und die analytischen Erkenntnisse bezüglich des unterschiedlichen Verhaltens der untersuchten hochfesten Stahlwerkstoffe validiert werden. Hierbei konnte die Übertragbarkeit und An-wendbarkeit der Erkenntnisse über die speziellen Biegeeigenschaften moderner, hochfester Stahlwerk-stoffe insbesondere hinsichtlich der Versagensursachen dargelegt werden. Dies unterstreicht den Praxisbezug des Projektes und zeigt, dass die gewonne-nen Erkenntnisse direkt im industriellen Umfeld einsetzbar sind. Die Inhalte dieses Berichtes im Speziellen sind vor allem für die Vorabschätzung und Simu-lation von Machbarkeiten und die Auslegung der Prozessführung und Gestaltung der Werkzeuge bei den verschiedenen Verfahren und den verschiedenen untersuchten hochfesten Werkstoffen empfehlenswert.
Das Forschungsprojekt wurde am Institut für Umformtechnik und Leichtbau der Technischen Universität Dortmund und der Tata Steel IJmuiden B.V., Niederlande, mit fachlicher Begleitung und mit finanzieller Förderung durch die For-schungsvereinigung Stahlanwendung e. V., Düssel-dorf, aus Mitteln der Stiftung Stahlanwendungsforschung, Essen, durchgeführt.
Autoren:
A. E. Tekkaya, A. Weinrich, M. M. Gharbi, P. Kömmelt
Veröffentlichung:
2011